1.
Heimat ist ein fürchterliches Übersetzungsproblem. Weil das Deutsche eine Unübersetzbarkeit ins Wort hineingeschrieben hat, sodass mich die Übersetzerinnen und Übersetzer meiner Theaterstücke in einer Verzweiflung immer erneut darüber ausfragen, was denn genau damit gemeint sei, mit meiner Heimat. Denn es gäb zwar dieses oder jenes Wort, das für eine Umschreibung der Bedeutung in Frage käm, aber die Figuren in den Stücken, die da das Wort in den Mund nehmen, scheinen von vielen Worten gleichzeitig zu sprechen. Ein ganzes Lexikon an Unbestimmbarkeiten also, in einem Wort gefangen. Da sitz ich dann immer recht ratlos davor, vor der Frage nach der Heimatbedeutung, und, weil ich mir nicht zu helfen weiß, frag ich ganz sacht es selbst, das Wort nämlich. Hörst, Heimatwort, frag ich vorm Bildschirm am Schreibtisch, was bist denn jetzt? Und anfangs bin ich eher schüchtern, zurückhaltend im Fragen, weil ich will ihm ja nicht auf die Füß, dem Wort von der Heimat. Da schweigt's mich an und ich frag erneut. Und wieder und wieder, bis ich ungehaltener und fester, fast zornig bin, und ich schrei dann schon rein, in das Wort, es soll doch mal endlich deutlich sagen, was es jetzt sei: ein Haus? ein Ort? eine Herkunft? eine Natur? eine Kultur? ein Bild? ein Beziehungsgeflecht voll von Emotion, Erinnerung und Nostalgie? oder doch nur eine Lüge? Und ich spuck schon drauf, der Bildschirm am Schreibtisch beschmiert, aber das Wort bleibt stumm. Ist trotzig, dumm und hochnäsig. Das war ja immer so meine erste Vermutung, die Hochnäsigkeit drin, in der Heimat, aber je mehr ich dann im Stillen sitz, ohne Antwort, und das Wort mich immer noch anschaut, desto mehr wird mir klar: das Schweigen kommt aus der Furcht heraus. Es scheint ein Wort zu sein, dass sich vor der Übersetzung, der Überführung also, vor der sprachlichen Verschiebung ins Fremde fürchtet. Ein Furchtwort, die Heimat. So steht's nun klar, das Heimatwort, vor mir. Als eine feige Sau. Und ich schreib, sorry, zu meinen Übersetzerinnen und Übersetzern meiner Theaterstücke, sorry, aber der ist nicht zu helfen, der Heimat. Sie hat sich in sich selbst verkrochen. Vielleicht hilft Abwarten und gut zureden.
2.
Die Heimat ist eine Rampensau. Ein Wort, das sich nicht zu schad ist, zum Selbstverkauf, zur Ausgestelltheit, zur Massenvereinnahmung. Verplakatiert und verschlagzeilt. Verökonomisiert und vereinnahmt. Und vor allem ein Wort, das die Vorrangstellung liebt, sodass die meisten Komposita auch die Heimat an den Beginn stellen. So ist's keine Gefühlsheimat, sondern ein Heimatgefühl. Keine Urlaubsheimat, sondern ein Heimaturlaub. Keine Kunstheimat, sondern eine Heimatkunst. Ich würd sie ja gern haben, echt, die Liebesheimat etwa, oder die Gedankenheimat, Sprachheimat, Schutzheimat, Beschmutzungsheimat, Pflegeheimat, Stückheimat. Nur gehen diese Worte unter, werden schwach, oft vergessen, auch sinnlos, neben der Heimatsprache, dem Heimatgedanken, der Heimatliebe, auch neben Heimatschutz, Heimatbeschmutzung, Heimatpflege und Heimatstück. Schad, denk ich, dass sie sich der Liebenswürdigkeit entzieht, weil sie so herausgeputzt und vorgedrängt sich hat. Und weiter denk ich, manchmal würd's schon helfen die Dinge einfach umzudrehen. Auf den Kopf zu stellen. Großartiges käm zum Vorschein. Verunmöglichtes erhielt eine Sprache. Wenn nicht immer das bereits Gesagte wiederholt da steht. Eine Heimat, die aus dem Rampenlicht träte, wär mir also lieber.
3.
Heimat ist die Gesamtheit des unendlich Banalen. Da wird auch das Scheißtrümmerl eines Rehbocks zum Heimatgefühl. Oder die Kuhflade des Bioheumilchkalbs, die da, wenn auch im deftigen Gestank, mit einer regionalen Nachhaltigkeit daherkommt. Auch die geschmacklose Hässlichkeit der Wandtapezierung aus vergilbter Kindheit löst verklärte Euphorie aus, wie es auch das vehemente Gefluche eines genervten Touristen im Ausland tut, der in rüder Reminiszenz an seine überschaubar geordnete Herkunft ins Chaos einer ostasiatischen oder südamerikanischen oder nordafrikanischen Metropole ein beherztes „Heast Oida, geht’s scheißen!“ loslässt. Da freut sich der ebenfalls genervte Leidensgenosse im fremdländischen Chaos, sagt hallo zum Heimatverbündeten und fragt freilich nach der genauen Region der Herkunft, weil nur wenn wo Österreich draufsteht, heißt das noch lang nix! Die Heimat ist ein Areal der kleinstmöglichen Bestimmbarkeit des Herkünftigen, da macht's einen enormen Unterschied ob Neusiedlersee oder Bodensee, ob Pongau oder Lungau, ob Ötztal oder Zillertal, ob Hofern, Hausmanning oder Haselböckau. Ja, weil welches Grätzel es ist, wo du deine Grillwürstel auf den Rost haust und das Schweinsbratl einfettest, macht dich erst erkennbar und also bestimmbar und also identifizierbar, als ein Dasieger oder Hiesiger oder eben nicht. Die Heimatidentität ist also eine Summe belangloser Alltagszufälligkeiten, die erst in der Gesamtkonstruktion ihre Bedeutsamkeit erhalten. Was durchaus nicht unvorteilhaft ist, sonst würd ja ein jeder auch nach dem Scheißtrümmerl vor der Haustür stinken, wenn er sagt, seine Heimat sei Österreich.
4.
Heimat ist die lächerliche Vorfreude auf das Spiel der eigenen Mannschaft, ist das jämmerliche Zittern während der ersten Spielminuten, ist der unangebracht euphorische Jubel nach dem Tor, ist die kollektiv zelebrierte, katastrophale Niedergeschlagenheit danach, ist das Gefühl, dass wir alle zusammen im selben Stadion weinen, im selben Bierzelt, vorm selben Fernsehkastel im Garten, und dabei das Leder, das wir fiebrig verfolgten, nun letztlich verfluchen. Ist das Gefühl, dass selbst der Trauer, dem Frust und der Ernüchterung eine verbindende Lebensqualität innewohnt, nämlich jene des lustvollen Pessimismus oder destruktiven Nihilismus oder schlicht des schwarzen Humors vorm freudigen Untergang. Ist dann endlich auch wieder die gemeinsame Beschwörung des einen, singulären Punktes im Verlauf des Geschichtlichen, von dem wir ausgehen, dass wir damals eine Weltmacht gewesen wären, also entweder Sissi oder Córdoba.
5.
Heimat ist ein Zustand des Aufgehobenseins. Denn wenn der Mensch zur Welt kommt, dann wär's ansonst ein Fallen, auf den Boden, würd da keiner oder nichts auch sein, das einen hält, und heraufhebt. Und das sind also zu aller erst die Hände, die Heimat, die aus dem Herausfallen ein Halten machen. Ein Halt also, die Heimat, der dir das Überleben erst ermöglicht. Weil wer fallengelassen und übersehen auf dem Boden der Tatsächlichkeit rumliegt, ist in Gefahr. Existentiell. Wer aber in der Heimathand dann sich im Halt befindet, sich allzu sehr einrichtet darin, in diesem Nest des Glückseligen, und nicht mehr bemerkt, wie sehr das Tatsächliche unten drunter und herum um ihn weiterexistiert, der nur mehr also in einer Unwirklichkeit, nenn's auch Abgeschottetheit, nenn's auch in heimeliger Lüge lebt, ist ebenfalls in Gefahr, nämlich nicht unwirklich, abgeschottet und verlogen, sondern tatsächlich existentiell. Denn dann gibt’s eine Existenzzerstörung von Innen heraus. Dann erdrückt die Heimathand, nimmt dir die Luft, nimmt dir die Freiheit. Heimat also ist ein Zustand des Aufgehobenseins in geglückter Schwebe zwischen Vertrautheit und Fremdheit.
6.
Heimat ist ein Aufruf zur Selbstverortung. Es heißt, du weißt nicht, wer du bist, wenn du keine Heimat hättest. Gib dir einen Ort in der Welt! Der ist aber nur dann in der Welt, der Ort, wenn er sich in ein Verhältnis setzt, zur Welt. Ein Punkt im Nirgendwo also, ohne Welt, ist keine Heimat, das ist nur ein Punkt im Nirgendwo. Ich gehe verloren in einem Nirgendwo. Ich brauche den Bezug, und also wird der Heimatpunkt zu einem Geflecht mit anderen Punkten. Die Selbstverortung ist kein Spiel für Egoisten. Ich muss den anderen sehen, um zu wissen, wo ich steh. Alles andere nennt man Blindheit. Gefragt ist also, um daheim zu sein, das Sehen des Fremden am Bahnsteig, auf Autobahnen, in Zügen. Gefragt ist, um zuhause zu sein, die Irritation von Schweiß und Gestank der Herumirrenden, weil sie dran erinnern, in ihrem Irren, dass dein Ort ein Glücksfall ist, der dich zum Erkennen der Welt veranlassen sollt. Gefragt ist zuletzt auch die Erkenntnis des Scheiterns einer Heimat, weil die Welt sich verändert und den Heimatpunkt ordentlich herumtreibt, vor die Herausforderung der Weltteilnahme stellt, und das kann weh tun. Einen punktuellen Wohlstand aufzugeben, um erst mal wieder in eine neue Position zu kommen, die dich neu zu dir finden lässt. Das ist, bei aller Schwere, gefragt. Eine permanente Neuerfindung, deine Heimat, also.
7.
Die Heimat ist eine verstörte Seelenlandschaft. Und das nicht erst seit Freud. Die Störungen des Bewussten durchs Unbewusste war ja schon davor auch da, nur hat das Wort dazu gefehlt. Die Abgründe, etwa die Dunkelheit, die Grausamkeit, die Gewalt, die da hereinbricht, wo's doch grad so unbekümmert und überschaubar wär, das hat ja schon die Erzählwelt des Mündlichen gekannt: die Kehrseite des Waldes, die Ungebändigtheit des Unwetters am Berg. Keine Heimaterzählung kommt aus, ohne die Bedrohung der Heimat, die immer scheinbar von außen kommt, aber letztlich doch der Zerrspiegel des verborgenen Innen ist. Wenn die Heimat das ist, was wir in uns tragen, dann ist sie eben auch das Fremde, das wir, runtergeschluckt, verdrängen wollen. Ein traumatisiertes Wort also, die Heimat. So braucht es eine permanente Verarbeitung, damit es aus den Schlupfwinkeln der Heimlichkeit in die Offenheit tritt. Denn sie will endlich auch in ihrer Vielgestalt erkannt sein. Sprecht über eure Ängste! Sie wurzeln in euch selbst! Je mehr wir also verdrängen, desto schlimmer beutelt uns der Alptraum. Der neue Nationalismus, der überall im Namen der Heimat geführt wird, ist also schlicht nur die neurotische Verstörung Europas durch sich selbst.
8.
Heimat ist das Ablegen der eigenen Begrenztheit. Die dann eintritt, wenn du bei dir sein kannst: bei mir ist das der andere Mensch, der mich erst zu mir macht, der Raum, der entsteht, in der Annahme des Anderen. Bei mir ist es der Ort der Intimität, ist es der Moment der Verletzbarkeit, ist es die Ekstase der radikalen Vereinigung. Bei mir ist es der Flirt, das Wagnis, die Balancierung zwischen Abgründen des Menschlichen. Bei mir ist es auch das Vertrauen, die Verantwortung auch im Unmöglichen zusammenzustehen. Es ist der Schwindel, die Angst vor dem Fall. Das Springen, das Abheben. Der gemeinsame Flug über vermeintliche Verankerungen, Gefängnisse hinweg. Das Anschnallen, wenn alles bebt. Der Zuspruch: wir schaffen das. Die Suche von Händen, die sich finden. Der Blick hinunter, auf Länder, deren Grenzen dann lächerlich erscheinen, weil doch alles irgendwie zusammenhängt. Das Verlassen schließlich und das Wiederfinden.
9.
Heimat ist gesellschaftliche Verwebung. Ist das Ineinanderlaufen von Biografien, Verschwimmen von Begegnungen, Vernetzung von Aussagen. Ist Gesellschaft in ihrer unerwartbarsten Dimension. Sie macht Lust, die Heimat, auf die Politik der möglichen Utopie.
10.
Heimat ist der Versuch, auf dieser Welt nicht verloren zu gehen.