Gegen die Schwermut.

POST VOM ARZT N° 2/2024


"He! Ja, du!, schaust dich tief an, lachst, klopfst dir auf die Schulter: "Dieses Gefühl, he, du, es ist nur irrlichternder Schein! Ist doch alles gut!"
"He! Ja, du!, schaust dich tief an, lachst, klopfst dir auf die Schulter: "Dieses Gefühl, he, du, es ist nur irrlichternder Schein! Ist doch alles gut!"

Da ist dieses Gefühl. Das dich wachhält. Im Kreis gehst du, durch Fenster starrst du raus, wohlbehütet im Warmen, der Schlaf deiner Liebsten um dich, aus dem Bett bist du geschlichen, bist doch im Grunde ein glücklicher Mensch… Dennoch dein zweifelnder Blick an Lichter da draußen vorüber, Häuserfronten entlang, über Dächer hinweg, ins Ungewisse.

 

Die Scheibe hält Lärm und Chaos ab, hoffst du. Du überprüfst deine Hoffnungen (Heizung funktioniert, Lärmschutzdämmung ebenfalls), doch ahnst zugleich, etwas ist aus dem Lot. Dinge sind am Kippen, Ruhe kann rasch umschwenken, manchmal erfasst dich eine Panik: Du balancierst mit wohlgemeintem Lächeln über Abgründe hinweg.

 

«Wovon redest du?», fragst du dich selbst im Spiegelbild. «Geh schlafen und morgen trinkst du einen guten und nachhaltig produzierten Kaffee, tust gute und nachhaltige Dinge!» Also schiebst du die Zweifel (die Verzweiflung) fort, siehst deinem Atem zu, der am kalten Glas Gebilde der Zuversicht formt (ein Versuch jedenfalls, fragiler Sehnsuchtsmoment), allzu rasch verzieht sich aber der Hauch, erneut allein deine müden Augen in der Scheibe gespiegelt. Sagst dir: «He! Ja, du!», schaust dich tief an, lachst, klopfst dir auf die Schulter: «Dieses Gefühl, he, du, es ist nur irrlichternder Schein! Ist doch alles gut! Glücklicher Mensch...»

 

Lehnst am Glas. Und eine Stunde ist vergangen, im behüteten Nest deines privilegierten Lebens. Wagst nicht, Nachrichten zu lesen. Scheust dich vor allzu laut gewordenen Weltkonflikten. Krisenherde willst du nicht mehr einordnen, zu viele sind es, so fühlt es sich für dich an, in deiner Gegenwart. Denkst nur an das, was zu kochen ist, einzukaufen, welche Mails unbeantwortet rumliegen, welche Freundschaften endlich wieder zu pflegen wären, ehe die Zeit bis Weihnachten, zu den nächsten Ferien («Hast du schon was für Sommer gebucht?») erneut ungenützt verrinnt.

 

Kurz willst du alles anhalten. Luft holen.

 

Schwermut nennst du es nun, dieses wiederkehrende Gefühl. Weltschmerz. Oder Unruhe, die dich erfasst hat. Über die Gesichter deiner Kinder schieben sich zunehmend Bilder von Raserei und Kriegsgetrommel. Was dich früher auf die Straße trieb und protestieren ließ, nickst du heute resignierend ab. Menschenverachtung und Zynismus beherrschen die Machtzentren deiner Welt, die du mitträgst, die du mitgestalten könntest. Das rechte Lager hast du in deiner Mitte akzeptiert, die extremen Auswirkungen von Zerstörung und Ausbeutung außerhalb deiner Verantwortlichkeitsbereiche verschoben, und du weißt es! Der Satz, du hättest alles dir Mögliche getan, um für einen besseren Planeten zu sorgen (schönste denkbare Zukunft!), kommt dir immer schwerer über die Lippen. Nennst ihn irgendwann eine Lüge. «Was hast du wirklich getan?»

 

Du klagst dich an. Der Klage ist jegliche Trauer entwichen. Sie ist voll Wut. Und vielleicht könntest du nun schreien, losbrüllen, um dich schlagen. Das stellst du dir in deiner politischen Unbeholfenheit vor: Was, wenn du nun auszuckst? Was, wenn du der Gewalt da draußen mit eigener Gewalt antwortest? Wenn du keinen Platz mehr für ausgewogene Gespräche erkennst, wie rasch bist du dann selbst bei der Faust? Was hält dich also noch? Wie stark sind die Netze deiner Vernunft? Und was fängt deinen Frust, deine Sorgen, deine Verzweiflung noch ein? Ein unverhofft weitsichtiges Buch? Ein radikal ehrliches Gespräch? Eine ungeplant waghalsige Wanderung ins tatsächlich freie Gelände…?

 

Es dreht sich wer im wilden Traum, deine Kinder, deine Familie - eine Hand sucht ein Gegenüber, du tappst zurück ans Bett, erwiderst kurz den Händedruck, spürst Verantwortung, Anwesenheit (pur und körperlich) von Liebe. Du lässt ab von dem Gedanken, etwas anzuzünden. Die dich umgebende Gewalt hat dich gewaltig ins Schleudern gebracht... «Nun aber genug!»

 

Du sagst es endlich in die Nachtluft hinaus, dein Schlafzimmerfenster gekippt, kühler Wind um dich. Und du merkst, allein dieser Öffnungszustand ist Neuanfang. Hast dich zu lange versteckt. Dich abgeschirmt. Dich im vermeintlich Behaglichen verschanzt, gesellschaftliche Selbstaufgabe. Suchst nun nach Worten, die deinen Widerstandsgeist wecken.

 

Du sagst dir, der Morgen wird Klarheit bringen. Bei Licht willst du dich hinsetzen, dein Unbehagen (so nennst du es zuletzt), das dich in Tatenlosigkeit trieb, endlich abstreifen, deiner Gefühlslage die rationale Stirn bieten. Sortier dich! Geh auf Abstand! Zu deinen erdrückenden Ängsten, dem Wirrwarr, der Gewalt… Und verlass den Raum deiner bitteren Melancholie, der dir manchmal so guttat, zu lange aber dich wehrlos gemacht hat. Du nimmst dir vor, deine Handlungsmöglichkeiten neu zu vermessen, aus einer wieder gefundenen Distanz heraus.

 

Wo stehst du?

 

Was ist deine Position auf dieser Welt?

 

Was sind deine Waffen gegen die dich umgebenden Ungerechtigkeiten?

 

Welche Schritte kannst du unternehmen, im eigenen Tun, im Zusammenhalt mit anderen, durch Hartnäckigkeit, Reflexion und Widerstreit.

 

Du entscheidest dich - jeder Krise wohnt, im Wortsinn, ein Moment der Unterscheidung inne (Was will ich? Was will ich nicht?). Was du also willst: Dem erschlagenden Gefühl, das sich dir bemächtigt hatte, mit den dir bestmöglichen Argumenten begegnen. Im Zweifel Kritikfähigkeit erkennen. Und zu ungehalten erhellender Sprache finden.

 

Damit beginnst du. Genau jetzt.

 

(Wien, 28. Oktober 2024)


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