Meine zweite Tochter ist geboren – zwischen Lockdown I und Lockdown II. Ich bin froh, dass ich dabeisein konnte. Nach den Erfahrungen mit unserer ersten Tochter, die anfangs einige Wochen im Krankenhaus verbringen musste, tat es gut, mein Kind und meine Frau diesmal ohne größere Sorgen nachhause zu bringen. Wir sind wohlauf. Natürlich, der Alltag verläuft turbulent. Wir straucheln immer wieder, wünschen uns Zeitfenster der Ruhe, merken zugleich, wie sehr die eigene Gefühlslage auf die Kinder überspringt, wie wichtig Gelassenheit und Reflexion sind – was ist schon eine mit Schoko-Fingern beschmutzte Wand angesichts einer beschissenen Asylpolitik?
Während die Kleine fröhlich Milch zurückspuckt und die Ältere abstrakte Begriffe malt («Was ist das, Kind?» – «Vorstellungskraft, Papa!»), verfolge ich die Nachrichten über die Abschiebung dreier Schülerinnen und ihrer Familienangehörigen aus Österreich. Ich ringe um Worte. Es frustriert und macht wütend. Vor allem rüttelt es wach, wenn vermeintlich «Gesetzeskonformes» geschieht, es mir aber unrecht erscheint und meine eigenen Privilegien als verlogen aufzeigt. Ich denke an meine Kinder. An Glück und Zufall ihres Geburtsortes. An ungerechte Verteilung von Boden und Gütern. An die machtdurchtriebene Zerklüftung dieser Welt durch Territorien. Ich denke und drehe mich letztlich im Kreis.
Tags darauf (ich schiebe gerade die Ältere im Kinderwagen) kreuzt ein vollbewaffnetes Einsatzkommando mit Rammbock meinen Weg. Irgendwo wird eine Tür aufgebrochen werden, kommt es mir in den Sinn. Meine Tochter ist mit dem Wind beschäftigt, der um ihren Kopf pfeift, sie duckt sich. Ich überlege, sie auf diese absurde Situation in unserer friedlich anmutenden Wohngegend extra aufmerksam zu machen, drehe sie stattdessen aber intuitiv davon weg. Derweil ist das Einsatzkommando (als wär's eine Filmszenen) beinahe geräuschlos in einem Gebäude verschwunden. Ich weiß nicht, ob das alles «zu meinem Besten» passiert, oder «zum Besten der Wohlhabenden und Mächtigen» in diesem Land; oder ob ich da lang schon dazugehöre.
Wir rollen weiter Richtung Kindergarten. Meine Tochter zählt die Kräne der umliegenden Baustellen (neue Wohlstandshäuser schießen im Viertel in die Höhe), von Waffen und feuersicheren Westen hat sie nichts mitbekommen. Am Straßeneck steht ein alter Mann, tief in die Jacke gehüllt, er bittet mit FFP2-Maske um einen Euro. Als ich ihm die Münze in die Hand purzeln lasse, fürchte ich die Viren, die dort lauern könnten, meine Tochter hatte ich erneut unbewusst weggedreht. Rasch schiebe ich den Kinderwagen weiter und schäme mich. Eine Politik der Abschottung, des Misstrauens und der Angst hat mein Denken und Handeln unterwandert. Aus Sorge um die Familie? Aus Selbstschutz?
Etwas später überfliege ich die Nachrichten. Nirgends etwas über einen Polizeieinsatz in meiner Nachbarschaft. Muss ich nun froh sein, dass «potentielle Gefahr» abgewendet wurde? Oder hat man neuerlich Menschen «gesetzeskonform sichergestellt»? Es bedrückt zu sehen, wie sehr Gewalt (und immer neue Gewalt) meine paar Quadratmeter «glücklichen Lebens» flankiert. Und ich nehme mir vor, mit meinen Töchtern bald darüber zu reden – über Glück und Zufall ihres Geburtsortes, ungerechte Verteilung von Boden und Gütern, machtdurchtriebene Zerklüftung dieser Welt durch Territorien.
Am Abend spuckt die Kleine neuerlich Milch zurück, die Größere ärgert sich über die Nudeln, die nicht auf die Gabel wollen und meine Frau ärgert sich über die Partei, die wir gewählt hatten, damit deren Regierungsbeteiligung die rechtsnational-reaktionären Tendenzen im Staat «wenigstens abfedern». Es sieht nicht so aus. Was helfen verspätete Zeigefingerworte (etwa des Bundespräsidenten), wenn Unrecht «gesetzeskonform und mehrheitsfähig» lange schon die Staatsgeschäfte lenkt? Keine überraschenden Nachrichten sind es, die uns wieder beschäftigten. Und erschreckend schnell drohen sie in pandemischer Routine konsequenzlos zu verhallen.
Ich öffne das Fenster, drücke die Kleine enger an mich, die Große ist ruhig eingeschlafen, und ich nehme mir vor, dafür Sorge zu tragen, dass Umdenken einsetzt und Veränderung passiert. Gerade weil wir wohlauf sind.
(Wien, 4. Februar 2021)