He, sagt die Stimme. He, Sie, sagt sie, ja, genau, Sie da. Und sie wird nun eindringlicher, hätten Sie kurz? Dringt nun rein, in mein Ohr. Eine Frage hätt ich, so sagtʼs die Stimme. Ja. Sie! Sehen Sie mich? Da bin ich, ja. Sie sind grad an mir vorbei, und. Wie soll ich sagen? Es ist mir selten zuvor so ergangen, aber ich bin grade etwas verloren. Da halt ich an, beim Wort von der Verlorenheit.
Ich hab ja einen Reflex, im Normalfall, den kenn ich an mir, diesen Normalfallreflex: Sobald jemand was will von mir, mich anspricht, von der Seit', von Hint', mir den Gang, den freien, plötzlich quert, weich ich aus, erst unscheinbar, später deutlich, ich weiche aus Sorge, stehenbleiben zu müssen und, ja, hineingezogen zu werden, in etwas, was meinen Alltag stören könnte. Wie diese Stimme nun. Allein die Möglichkeit der Störung stört bereits. Ich mach einen Ausfallschritt, automatisch. Ich kenn das an mir sehr gut, auch wenn ichʼs nicht immer wirklich will, diesen Normallfallausweichreflex, wenn wer um etwas bittet, besonders im Öffentlichen. So wie heute, hier, an diesem Tag.
Ich also an diesem Tag wiedermal unterwegs in der Öffentlichkeit, nichtsahnend, durch mein Viertel, da plötzlich diese Stimme: Ja, warten Sie doch, Sie da, he. Es ist hier wirklich, eine Dringlichkeit. Ich dreh mich nun um, denk mir, vielleicht sollt ich doch. Nachschauen gehen, kurz nur, um mich zu vergewissern, dass hier kein Notfall, dass es hier nicht um Leben und Tod, dass es, wie anzunehmen, der ganz normale Jammer unserer Gegenwart, kennen wir doch. Diese Menschen, die uns anreden, mit jammervollem Blick, im Einzelnen immer tragisch, in der Summe aber ein System, aus dem ich mit schlechtem Gewissen einen Ausweg suche, und der heißt: abwimmeln, weitergehen, möglichst ignorieren! Wennʼs nicht grad um was Existentielles. Oder? Viele haben Sorgen, grad jetzt, in diesen Tagen, haben sich die Sorgen auch bei mir selbst getürmt, ich kann da nicht jeder und jedem im Daherlaufen zur Hand, wo sind Sie denn überhaupt? fährt es mir über die Lippen.
Schön. - - Jetzt haben Sie angehalten, für mich! Ich wende mehrmals meinen Blick, such die Richtung, woher sie kommt, die Stimme, da ist doch niemand! Ich dreh mich, find es jetzt schon zu dumm von mir, dass ich mich eingelassen hab, auf diese öffentliche Anrede, war grad eher so privat unterwegs, muss ich sagen, echt. War da grad ziemlich so im Privaten mit mir beschäftigt, hat sich, ehrlich gesagt, gut angefühlt, mal nicht so nach außen leben zu müssen, mehr in mich rein, grad jetzt, nach all der letzten Zeit, wo das Draußen so unüberschaubar und bedrohlich. Drum mag ich das jetzt ehrlich gesagt überhaupt nicht, wenn mich wer im Gang durchs Viertel in aller Öffentlichkeit aus meiner Privatheit herausreißt. Ja, wo sind Sie denn? Wo?
Da regt sich was. Ich hättʼs fast übersehen. Dachte, es sei ein flüchtiger Schatten, geworfen von Vorüberziehendem, Wäsche, die trocknet, Tiere, die streunen, Kinder im Versteckspiel, oder ein Flugzeug, das hier gerne mal drüberdonnert, bin nun fast überrascht, ehrlich gesagt, dass da jetzt, aus einem Winkel hervorgetreten, ein Mensch.
Da kommt er jetzt, der Mensch, kommt auf mich zu. Etwas verloren, denk ich, ja, tatsächlich wird’s diese Verlorenheit gewesen sein, dieser Gestalt am Rand, weswegen sie mir gar nicht präsent, also. Die Präsenz dieses Menschen war von seiner Orientierungslosigkeit vollkommen überschattet, so denk ichʼs jetzt, und will diesen Daherkommenden schon lieber hinter mir gelassen haben, oder istʼs eine Frau? Kind? Ich erkennʼs nur schwer, die Gestalt da, die zu mir gesprochen, die nun auf mich zu, ich hätt sie, ehrlich gesagt, gern jetzt schon, bevorʼs überhaupt beginnt, die Begegnung, abgeschüttelt. Ich fühl mich, noch ehe ich verstanden haben könnte, worum es denn hier geht, belästigt. Ohne zu wissen, wer sie ist. Oder er. Es. Also, diese Schattengestalt da! Die mich so aus dem Nichts angesprochen.
Ich will weiter, da reißt mich die Stimme zurück: Danke. Dass Sie mir zuhören. Ich weiß, es ist unverschämt, ich hätt auch jemand anderen, es war wohl ein Zufall, aber, ich bräuchte Auskunft. Sie klingt ehrlich, die Stimme. Also wende ich mich ihr zu. Reiße mich sozusagen zusammen, lasse mich ein: Was ist denn? Ich versuche, nicht genervt zu klingen, es gelingt nur schwer. Ich hab eine Frage! Das nehm ich an, wenn schon wer so suchend blickt und verloren rumsteht, wird’s eine Frage sein, die belastet, ich höre. - - Nun? - - Entschuldigen Sie, ich hab echt nicht ewig, also, ich war eigentlich grad unterwegs, worum geht’s denn jetzt, purzelt es aus mir raus, etwas ungehalten, aber ist doch wahr. Wenn mich schon wer aus dem Privaten reißt, dann bitte mit was Wichtigem. - - - - Kennen Sie den Weg? Ich steh verdutzt, ob der Allgemeinheit dieser Frage, warte kurz ab, ob noch was kommt, aber sie scheint sich nicht zu konkretisieren. Welchen Weg? frag ich, etwas forsch, ok, das war jetzt forsch, aber, ich mein, Wege gibt’s viel, da kann ja jede und jeder kommen. In den Augen des Gegenübers (nun steht es etwas entrückt und mir fern) eine sonderbare Leere, ich vermute Verwirrtheit, kennen Sie den Weg, unterstelle Verrücktheit, wer so eine Frage fragt. Immer wenn Sonderbares mein Weltgefüge sprengt, reagiere ich mit den selben Erklärungsmustern: Wird wohl das Verrückte sein, das da sich verlaufen hat. Die Gestalt tut mir leid, meine Stimme wird mild, fast wohlwollend, ja, wo wollen Sie denn hin?
Ich möchte kurz eine Hand reichen, ich bin ja nicht so, so bin ich nicht, dass ich, also. Wenn wer in einer allgemeinen Verlorenheit steht, dann reagiere ich. Sozial. Mitmenschlich. Jedenfalls auskunftsfreudig. Welchen Weg suchen Sie? - - Ja, wo sind wir denn überhaupt? kommt die Gegenfrage aus dem Mund der verlorenen Person, verharrend auf der Position gegenwärtiger Überforderung, schaut sich um, erschaudert, so wirktʼs, als würden Seile reißen, die sie gerade noch gehalten hatten, die Stimme stockt. Bald panisch: Es ist so neu alles, oder? Das ist doch. Furchtbar neu. Und sie meint die Umgebung, die sie sichtlich irritiert, die sie in diese Verlorenheit womöglich gestürzt hat. Ich versuche Sicherheit zu bieten, Kontext (Das hilft! Immer wenn die Verlorenheit einem zu groß wird, brauchtʼs Versuche, den Zusammenhang wieder herzustellen: Wer sind wir eigentlich? Was tun wir? Wo stehen wir?) Und ich sag, in Einfachheit, ohne Hintergedanke: Es ist ein neues Viertel hier. Also, die Häuser, die Hochhäuser, die Parkanlage, die Promenade, keine Sorge. Mich verwirrt das auch immer aufs Neue. So istʼs eben, mit dem Neuen, es kommt, bricht manchmal herein, oft heraus, aus dem Boden, wo davor ganz anderes, also, da haben Sie recht, da war schon auch mal anderes, also, gar nicht lang aus. Das Neue macht auch vergessen, dass hier lange nur Brachland. Und davor, da stand doch der Frachtenbahnhof, kennen Sie den noch? Also, so ein Viertel ist das, ein Aufbruchsviertel, hat das Geschichtliche davor aufgebrochen, Schicht für Schicht, und da ist eine Menge Geschichte darunter, wenn wir da mal beginnen würden, zu reden. Und das alles denk ich plötzlich und sagʼs auch heraus, direkt dieser nach dem Weg suchenden Gestalt ins entrückte Gesicht, aber das hilft der Verlorenheit mir gegenüber kein bisschen. Wie denn auch? Wenn ich da plötzlich jetzt selbst am Suchen, nach Worten, die meine Position bestimmen.
Fruchterregend neu, wiederholtʼs die Stimme. Ja, sag ich, aber es muss nicht gleich die Angst jetzt, nur weil was Neues, es ist ja auch Herausforderung, nach vorn zu schauen, Aufforderung, Altes zu überwinden, dieses Neulandviertel ist Bild, manchmal, so denk ichʼs wirklich, für die Gemachtheit der Welt, die (so wird’s mir augenscheinlich) veränderbar ist, mehr und radikaler als wir es oft vermuten, ok, das hier ist ein Wohnbauprojekt, aber auch Lebensraum, Möglichkeit von Koexistenz, Versuchsanordnung vielleicht, in der Schneise zwischen Wohlstand und Prekariat, sehen Sie da hinten? Hinter den neuen Bauten, da ist sowas wie das alte Arbeiterviertel, noch so, wieʼs gewachsen und zum Migrationsviertel lang schon geworden ist, oder immer war. Da prallt ja was, nicht? Wenn wir so schauen, von Haus zu Haus, wer wird hier wohnen? Wer wohnt hier nicht? Wer wohnt dahinter? Haben Sie sich vielleicht vergangen, ist es das? Wollten Sie auf die Favoritenstraße?
So red ich und rede weiter, als hätt die Begegnung mit der suchenden Gestalt was ausgelöst in mir. Als hätten diese Sätze nur darauf gewartet, herauszubrechen, der ich doch selbst durch diese neue Gegend erst seit Kurzem gehe. Bin frisch hierher. Muss mich selbst orientieren. Darum war ich wohl so privat vorhin unterwegs, für mich. Still und der Welt fast abgewandt. Weil sie einen ja oft erschlägt, die Welt. Weil sie, so erscheintʼs an tristen Tagen, zwischen den Fingern zerfällt, ungreifbar, unfassbar. Und weil ja auch die Nachrichten wieder gelaufen sind, von neuen Katastrophen, Machtübernahmen, Unsicherheitsszenarien und wachsender Tendenz zu Gewalt, Mord, all das. Zu genüge kennen wir das. Darum wollt ich heut gar nicht erst ins Reden kommen. Aber jetzt istʼs mir plötzlich, als hätt es diese Konfrontation gebraucht, diese Querung meines Gangs, diesen Zwischenruf von der Seite, diesen Widerstand im Verlauf meines Alltags, ja, Widerstand. Um meinem privaten Ohnmachtsgefühl was entgegenzusetzen. Ein Gespräch im Öffentlichen. Kennen Sie den Weg? Ja, wo sind wir denn überhaupt? Erstmals nun wirklich denk ich über diese Sätze nach, diesen Verortungsversuch einer scheinbar verlorenen Person, die mir plötzlich sehr vertraut erscheint, als könnt ich es selbst. Da ist sie aber schon wieder weg. Die Gestalt. Der Schatten am Wegrand. Die Unterbrechung meiner Routine. Der unverhoffte Widerstand.
He, ruf ich. He, Sie. Sind Sie noch da? Hallo? Sie da, Sie wollten doch, also. Der Weg. Ist das jetzt so im Großen und Ganzen gedacht, oder? Wartet jemand auf Sie? Ich kann auch gern auf dem Handy nachschauen. Hallo? - - Ich blick mich um, taste mich seltsam wankend voran, suche immer hastiger, habe das Gefühl, etwas verpasst oder jemandem Unrecht getan zu haben, kennen Sie den Weg? Ja, scheiße, was für ein Weg?
Ich zermartere mir plötzlich den Kopf. War es eine ernsthafte Frage? Natürlich kenne ich Wege, aber niemand kennt den Weg. Wie sollt man denn, gerade jetzt. Wir sind in jedem Moment am Neubestimmen unseres Kompasses, bis rauf in die Regierungen. Und in der Spiegelung der Orientierungslosigkeit unserer Gesichter ein sonderbar dumpfes Gefühl gesellschaftlicher Leere.
Jetzt hat mich die Leere erreicht. Na, danke! Als hätt dieser Wegschatten, diese Randerscheinung ihre Verlorenheit auf mir abgeladen. Echt, danke! Als ob ich nicht schon genug mit mir selbst zu tun hätt. Es ist gekommen, was ich eigentlich vermeiden wollte. Ich wollte mich mit alldem ja gar nicht erst befassen, weil ich es geahnt hatte. Ist doch so! Dass an Tagen wie diesen, wenn Kriege wieder aufflackern, Wälder brennen, Flüsse über Ufer treten, da bleibt man echt am besten beim Kuchenbacken. Oder Kaffeetrinken. Oder in der Badewanne, wo auch immer es einem gut geht. Aber bitte nicht hier, mitten auf der Straße, wo mir jeder ansieht, dass es frustriert und mürbe macht. Kennen Sie den Weg? Kennen Sie den Weg? Ich mein, wohin? - - Oder eher wo heraus?
Wir stecken doch alle seit Jahren in Ungewissheit fest. Das macht schon was, na klar macht das was. Das gräbt sich rein, gräbt Altes auf, das vielleicht schon gut umwachsen, bringt Wunden zum Vorschein, Gräben, von denen wir dachten, wir hätten sie zugeschüttet, katapultiert zugleich extrem Neues hervor, oft in Windeseile, fast wie ein Viertel, ja, das aus dem Boden gestampft. Unser Weltgefüge in der Pandemie einmal um die eigene Achse gedreht, und wir müssen ja doch funktionieren, und funktionieren ja. Ja, wir sind noch da! Und haben gelernt, uns angepasst, sind Kompromisse eingegangen, haben Verzicht erfahren, manchmal, manchmal nicht genug, sind in der Mehrheit mit einem blauen Auge davon, während andere an Langzeitfolgen leiden, oder nicht mehr sind. Aus der Gegenwart gerissen. Begraben, verbrannt. - - - - Wir haben weitergelernt. Akzeptanz von Krankheit und ohnmächtig trauernd, immer viel Ohnmacht, und wir wissen nicht einmal mehr, ob das alles letztlich zu etwas Gutem führt, zu Besserem. Zum Bestmöglichen. Das Beste. - - Es wird uns mehr und mehr klar, mit jeglicher Steigerungsform in unserem Dasein hat es ein Ende. Quer durch alle Lebensbereiche. Solange hält der Planet nicht mehr. Maximierungen zerstören. Das Beste für uns kann Desaströses bewirken für andere. Und meist ist dieses Andere bereits direkt vor unserer Nase.
Ja, richtig. Vor der Nase. Sind Sie noch da? He? Sie da? Sie können da nicht einfach so auftauchen und dann wieder - - Ich hab nachgedacht, also, über Ihren Weg, Ihr Suchen. Und ich frage mich, sollten wir nicht im Kleinen beginnen? Sie sehen doch die Straßenschilder! Wir sind hier sehr gut verortet. Eine Verlorenheit wäre gar nicht angebracht, ist nicht das Ende der Welt hier: Bloch-Bauer-Promenade. Sissy-Löwinger-Weg. Antonie-Alt-Gasse. Gertrude Fröhlich-Sandner. Maria Lassnig. Alfred Adler. Karl Popper - - Da stock ich erneut, zwischen all den Namen der Straßen, die mir in diesem Moment vorm Auge verschwimmen, ein Gewirr von Biografien von mir mehr oder weniger bekannten Menschen, meist erschreckend Unbekannte. Sollten sie mir etwas sagen? Wie kann ich hier gehen, ohne die Geschichte all dieser zu verstehen und dieses Bodens, auf dem ich mich bewege? Was war denn hier? Was war denn hier wirklich? Ist das der Weg? Ins Geschichtliche? Reißt mich hier das Gestern aus der Gegenwart, was wollen Sie denn? Was? Dumme Gedanken, ich wisch sie weg. Nur weil da irgendeine dahergelaufene Person mich nerven wollte. Weil da wer den Weg nicht gefunden hat, muss ich jetzt bitte nicht mein ganzes Sein in Frage stellen, echt.
Und endlich reiß ich mich los, von den Sätzen, die mich ins Wanken gebracht, ich lach sie aus, kennen Sie den Weg? Wo sind wir denn? Wen interessiertʼs, Hauptsache, ich hab noch Arbeit, Hauptsache, ich hab noch Wohlstand, lüg ich mir vor, ist doch nicht von Relevanz. Und ich geh, schleunigst, um sie mir ja nicht noch näher kommen zu lassen, diese plötzlich eingetretene Orientierungslosigkeit, ich lauf, ja, hetze durch die Promenade, Parkanlage, vorbei am Kindergarten, Schule, Supermarkt, Gartenprojekt, Hundeauslaufzone, raus, über Durchzugsstraßen, hinein, in ganz andere Häuserzeilen, ins Dahinter meines Viertels, als wär ich plötzlich aus einem gemalten Idyll gefallen, als hätt ich eine sonderbare Blase verlassen, als wär der eigene Alltag ein geschützter Raum, und da draußen wildes Chaos. So heißtʼs doch manchmal. So rücken wir unsere Raumordnung, Weltordnung zurecht.
Da schnauf ich jetzt durch, auf Pflasterstein, geh in die Knie, außer Atem. Als wär ich einer Bedrohung davon, sink nieder. Fass mich endlich, schau auf. Wo bin ich? Schau in unbekannte Straßen. Kenn mich nicht mehr aus, ist nicht mein üblicher Weg. Ich fahr mit der Hand in die Hosentasche, will aufs Handy, tipp rum, gestresst, in der Hektik die Finger zu feucht für die Bedienung, ich reib am Display, jetzt fälltʼs runter. Ich fass danach, hoff, es ist nicht defekt, da huscht wer vorbei. Quert erneut meinen Blick, flüchtig wieder nur am Vorüberziehen, aber diesmal brauchtʼs nicht viel, dass ichʼs erkenn: Sie ist wieder da. Die Gestalt von vorhin. Ich sehʼs genau, jetzt geht sie hier, wo der Bezirk streng quadratisch verläuft, ums Eck, und ums nächste. He, du, ruf ich, meinen sonstigen Ausweichreflexen völlig entgegen. Völlig anders als sonst will ich nun nicht in Ruhe gelassen werden, sondern will wissen, um welchen Weg es hier, verdammt nochmal.
Dieser suchende Mensch, der mir zuvor noch am Rand begegnet ist, läuft mir nun voraus. Ich folge ihm. Er schlägt Haken, mir ist, als drehe er sich um, als wolle sein Blick, der zuvor so traurig leer, der nun voll Neugierde, Aufbruch, Inspiration, als wolle dieses Wesen unverhoffter Vertrautheit traumtänzerisch nun sagen: Komm mit. Ich binʼs. Dein innerer Widerstand. Ich reiß dich aus der Bahn. Ich lock dich aus der Routine. Ich mach dich verloren, damit du neu dich umschaust. Bist du noch da?
Ja, ich bin da. Ich lauf. Schnell. Zügellos. Als hätt der Tag eine neue Wucht bekommen, als wär das Getöse an Nachrichten, das mir dumpf die Gegenwart nur mehr erscheinen ließ, greifbarer, unterscheidbar, möglich zu verstehen. Ich nehm sie ja wahr, meine Gegenwart, immer, ich sitz da, vorm Fernseher, mit der Zeitung, am Display, im Radio läuft ein Bericht über besorgniserregende Entwicklungen das Klima betreffend und angstmachende Tendenzen das Rechte Lager betreffend und Ungerechtigkeit stiftende Ansagen das soziale Netz betreffend, ich hör das alles, ich sehʼs, und es kocht auch auf, sowas wie Wut, Zorn, oder Gegenwehr, Widerspruch, ist ja da, auch der Wunsch, es nach außen zu tragen, zu besprechen, mit den mich Umgebenden, um herauszufinden, ob sie es auch, ob da auch, angesichts dieser zunehmenden Zerrissenheit des Weltgefüges, ob sie auch diesen Solidaritätswunsch verspüren. Aber meist prallt alles ab. Mein ganzes Aufbegehren im privaten Wohnraum im Nachrichtenkonsum folgenlos. Tag für Tag. Woche für Woche. Wahl für Wahl. Als hätt die Feigheit die Oberhand, oder der Selbstschutz, oder das Misstrauen (man könne ja sowieso nichts), oder die enger werdenden Zeitfenster zwischen Morgenkaffee und Arbeit, Leistung und Erwartung, Erfolgsdruck und Karriere, Gesundheitsvorsorge und erkrankten Systemen, privaten Ängsten und politischer Angstmache. So erlischt jeder Funke tatsächlicher Teilhabe an Veränderungsprozessen oft traurig und wehmütig im Korsett von Erwerbstätigkeit und Alltagsverpflichtung. Als wär da einfach immer zu wenig Platz im Verlauf eines Tages, Lebens. Was hätt ich nicht alles bereits tun wollen, frag ich mich im Wettlauf mit meinem Widerstand.
Aber komm doch, jetzt komm doch endlich, ruft mein Widerstandsschatten, der mich vorhin noch aus meinem Viertel gelockt hat, kennst Du den Weg? Der nun den Hügel hinauf seine Spur zieht, dem Straßenverlauf folgend, unter der Autobahn hindurch: Ein Ausblick!
Jetzt lacht sie mich an. Die Gestalt. Mann. Frau. Kind. Es scheint alles zugleich zu sein. Oder ich, in allen Möglichkeiten meiner Denkungsweise. Schön. Jetzt bist' da. Etwas über den Dingen. Wer zu sehr drinnen steckt, verliert Distanz zur Welt, nur so aber, aus der Distanz, lässt sie sich überschauen.
Und jetzt erst merk ichʼs, ich steh tatsächlich über der Stadt, ich blick auf die Häuser, auf Menschen, die nach der Arbeit nach Hause kommen, die sich am Reumannplatz drängen, lautstark, Familien, die auf Parkbänken zusammenkommen, Obdachlose, Betrunkene, die am Keplerplatz vor der Kirche sich einfinden, als wär dort ein letzter Hafen für sie, oder einfach der kürzeste Weg zum nächsten Schluck. Ich seh die Gutverdienenden hinter Glasfassaden, ich seh Kinder, die Fußball gegen Kirchenmauern spielen, unverschämt hupende BMWs und grell schleifende Mercedes. Müll, der vor Fastfoodketten liegt, Nussschalen daneben, auch Spucke aus den Mündern der Alten, Geplärr von Babies, Wutanfall einer Mutter, das Gähnen eines Arbeiters im Dampf frisch aufgetragenen Asphalts, Küsse am Skaterpark. Ich seh Nebeneinander, vielleicht Miteinander, oft auch Gegeneinander, aber es zeigt sich klar, das Bild, und konkretisiert sich, je geduldiger und schärfer ich schaue, je weiter das Panorama, je umsichtiger die Perspektive, widerständiger die eigene Wahrnehmung. Was zuvor Wirrheit war, Verrücktheit vielleicht, das Chaos einer Großstadt an diesem einen Tag, es erscheint mir letztlich angreifbar, neu fassbar und somit veränderbar.
Bist du noch da? Ich dreh mich, greif ins Leere. Mein Widerstandsschatten ist verschwunden. Hat das Weite gesucht, oder wartet, wer weiß, morgen wieder ums nächste Eck. Ich mag das aber jetzt, diese Leere, die zurückbleibt. In wohlwollender Einsamkeit, allein mit meinen Gedanken, geh ich in die Stadt zurück. Über aufgebrochene Pfade. Über Wege, deren Geschichte mich nun mehr begleitet als zuvor. Wegen, die von Ausbeutung und Machtgefälle erzählen. Fabriksanlagen und Zuwanderung. Migration, die diese Stadt immer schon mit erbaut hat und die, immer schon, voll Anfeindung, seit den ersten Momenten. Sie erzählen weiter, die Straßen, von Streik und Demonstration, sozialem Missstand und Wohlstand daneben, von Profiteuren und Bürgertum, Spekulation und Überschuss, Reformen und Revolution. Von Erweiterung und Begrenzung, von Brachland und Neuland, gestern, morgen.
Am Ende endlich steh ich wieder, dort, woʼs begonnen. In meinem Viertel. Und ich lausch, ob da nicht irgendwo wieder die Stimme, die mich stocken lässt. He. Sie. Ja, Sie. Kennen Sie den Weg?
(Der Text entstand im Rahmen von Common Grounds, einer Intervention im öffentlichen Raum, kuratiert von Irena Eden und Stijn Lernout, 06.09.-19.09.2021)