Theater findet statt. Und das ist die erste Bedingung. Ohne ein Stattfinden kein Theater. Es braucht das Hier und Jetzt, in dem sich Theater ereignet. Da kann noch so viel an Text vorhanden sein: der Text ohne Ereignis trifft nie auf die Gegenwart. Der Text ohne Ereignis trägt das Potential, für eine Gegenwart interessant zu sein. Vielleicht wichtig. Vielleicht notwendig. Aber er bleibt auf eine bittere Weise im Unfertigen. Das heißt nicht, dass alles aufgeführt werden muss. Oder dass nur das Aufgeführte Dramatik wäre. Oft liegt ja die meiste Dramatik in Schubladen rum (was mitunter als tragisch bezeichnet werden kann). Erst das Stattfinden aber im Hier und Jetzt lässt Theatertexte teilhaben, an einer Vergegenwärtigung von Welt.
Theater braucht keinen Text. Und das ist die erste Kränkung. Das Theater lebt ganz gut ohne meinen Text. Da muss man sich gar nicht erst fragen, was denn einen Text zum Stück macht, denn das ist fürs Schreiben erstens irrelevant und zweitens hinderlich. Wer schreibt, ist gut beraten, nicht in Kategorien der späteren Einordnung zu denken. Wer schreibt, erfindet Formen immer wieder neu (das darf man sich getrost sagen), und wiederholt doch letztlich beständig die bereits dagewesenen Formen (das sollte man sich guten Gewissens eingestehen: alles war schon einmal da, auch das radikal Neue). Was ich also nicht weiß: was ist ein Stück, was ein Drama, was ein Schauspiel, was eine Textfläche? Was ich aber weiß: das Theater wird meinen Text erst als wichtig, notwendig, vielleicht unumgänglich erachten, wenn das Geschriebene unaufhaltsam auf die Bühne drängt.
Theater, und also Dramatik für ein Theater der Gegenwart, braucht einen Drang. Und das ist mein erster Schreibimpuls. Dieses Drängen kann Handlung sein. Es kann Handlung zerstören. Kann sich Handlung verweigern, was wiederum eine Handlung für sich ist. Jedenfalls liegt dem dramatischen Schreiben, das sich nicht zufrieden gibt, mit dem Blatt Papier (und nicht mit der Schublade), das doch stattfinden und also vergegenwärtigt sein will, das daher dringlicher ist womöglich als anderes Schreiben, der Sprachdrang inne. Dramatisches will gesprochen werden.
Gegenwartsdramatik ist also Sprache für ein Heute. Und das ist die erste Überwindung. Meiner eigenen Scham nämlich. Wer schreibt, schlägt sich andauernd mit Schamgrenzen herum. Lotet sie (krankhaft womöglich) aus. Überwindet sie (möglichst unversehrt). Doch kommt ihnen nicht aus. Entzieht man sich der Scham, durch die (vorläufige) Stille des Schreibvorgangs etwa, belügt man sich. Was zu sagen ist, wird am Theater auch gesagt werden. Das unterscheidet Dramatik, die auf die Bühne will, von anderen Texten. Kein stiller Lesevorgang wird das Unangenehme, Verfängliche, Provokante, vermeintlich Unsagbare abschwächen. Dramatisch Schreibende katapultieren ihre Worte in aller Klarheit auf die Bühne hinaus. Irgendwer wird sie dort in den Mund nehmen müssen. Gegenwartsdramatik also konfrontiert. Direkt. Unwiderruflich. Öffentlich. Ist (für mich) verletzbarer, angreifbarer. Als anderes Schreiben. Und umso angriffiger.
Gegenwartsdramatik (und Dramatik überhaupt) ist politisch. Und das ist die erste Verantwortung. Wer für die Bühne schreibt, stellt Sprache in die Öffentlichkeit. Bezieht Stellung im Aufführungsraum. Nimmt teil, an Gesellschaft. Zumindest an jener Gesellschaft, die sich im Hier und Jetzt versammelt hat. Da muss nicht gleich die ganze Weltpolitik verhandelt werden: das Politische ergibt sich per se durch die Gegenwart von Sprache in Anwesenheit anderer. Gegenwartsdramatik muss sich daher immer die Frage gefallen lassen, ob sie politisch sei. Und kann getrost zurückfragen: ja wie denn nicht?
Dramatik braucht Publikum. Und das ist oft das Letzte, an das gedacht wird. Sicher, das Schreiben in die Leere hinein ist möglich. Mein Inneres benötigt nicht viel an Resonanz. Und oft ist zu schnelle Resonanz Grund für Blockaden (die Schublade ist auch nötige Schutzzone für Entstehendes). Auch das Sprechen in die Leere eines Saales hinein oder eines Platzes hinaus ist gängige Praxis. Man nennt es Probensituation (oder schlecht besuchte Vorstellung). Wenn Dramatik die Gegenwart allerdings nicht verpassen will, müssen die Teilhabenden, jene, die sich dem Drängen des Textes annehmen und seiner Dringlichkeit stellen, anwesend sein. Vergesst also das Publikum nicht! Es soll sich festkrallen an den Brettern, die (noch) eine Welt zu deuten im Stande sind. Ein leeres Theater gefällt sich am Ende nur selbst.
Eine Dramatik der Gegenwart, und das ist die Konsequenz des Vorherigen, braucht Archive. Denn hat sie stattgefunden, stirbt sie im Moment. Theater ist ein flüchtiger Vorgang. Und das Vergessen setzt schneller ein, als einem lieb ist (gerade wenn wenig nachgespielt wird – und es wird wenig nachgespielt). Wenn nur mehr Uraufführungen die Gegenwart zu reizen vermögen, werden zeitgenössische Stücke zur Eintagsfliege (hoffentlich nicht die Dramatikerinnen und Dramatiker). Jedenfalls ist (aus eigener Schreiberfahrung) in der aktuellen neoliberalen Betriebsamkeit mit einem zunehmenden Verschleiß neuer Stücke zu rechnen. Gegenwartsdramatik ist also immer auch das Abfinden mit dem Verschwinden. Denn selten stehen Stücke im Bücherregal. Es bleiben die Programmhefte der Theater. Die Fotografien zur Inszenierung. Die Videomitschnitte für die hauseigene Dokumentation. Die PDF-Files der Verlage oder am eigenen Rechner. Und: die Schauspielführer.
Eine Dramatik der Gegenwart ist im Moment Aktualität, retrospektiv eine Geschichtsspur. Und lang schon von Aktuellerem überholt. Wie gegenwärtig ist ein Text, der nur mehr im Register aufscheint und nicht mehr am Spielplan? Was bringt also das Nachlesen von Theatertexten? Es geht um keinen Kanon. Keine Festschreibung von Kunst. Jedenfalls sehe ich das nicht. Die Re-Lektüre rettet auch nicht den Text an sich vor dem Verschwinden (denn das Geschriebene ist ja dennoch irgendwo vorhanden). Was aber allein in der retrospektiven Zusammenschau entsteht, ist ein historisches Verständnis der Gegenwart. Ist Überblick, Vergleichbarkeit und Bewusstsein jüngster Geschichte. Ein Register der Gegenwartsdramatik erstellt eine Rahmung. Einen Kontext: Was ist die Dramatik von heute? Was erzählt sie? Was wird gesagt? Wer ist am Wort? Wer nicht? Und was ist zeitgleich gespielt worden? So entsteht, im besten Sinne, Zeitgenossenschaft.